Filmkritik: Wallace & Gromit - Vergeltung mit Flügeln
- Felix Knorr

- 6. Jan.
- 5 Min. Lesezeit
Nach 20 Jahren inszenieren Schöpfer Nick Park und Aardman-Animateur Merling Crossingham einen weiteren Wallace-&-Gromit-Spielfilm. Vergeltung mit Flügeln startet zwar nicht auf der großen Leinwand, doch Netflix sei es zu verdanken, dass wir den kauzigen Glatzkopf und seinen Beagle in ihrem zweiten Langfilm bestaunen dürfen.
Wallace & Gromit - Vergeltung mit Flügeln (Wallace & Gromit - Vengeance Most Fowl, 2024: Nick Park, Merling Crossingham), Streamingstart: 02. Januar 2025)
Gromit hat große Sorgen, dass sein menschlicher Freund Wallace abhängig von den zahlreichen Erfindungen wird. Als der glatzköpfige Tüftler einen Zwerg erfindet, der eine eigene Persönlichkeit entwickeln zu scheint, bestätigt sich dieser Verdacht. Zusätzlich greift ein alter Bekannter in das Geschehen ein, um den Roboter zu manipulieren und einen fiesen Plan aus vergangenen Tagen zu verfolgen. Nun liegt es an Gromit, gegen die dunklen Mächte anzukämpfen und Wallace zu schützen.

Das Phänomen Wallace & Gromit
Retrospektiv bezeichnen die Aardman-Produzenten und Erfinder Nick Park ihren oscarprämierten Kurzfilm Wallace & Gromit – Die Techno-Hose als den Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens. Die Geschichte um einen zwielichtigen Pinguin, der das harmonische Zusammenleben des dynamischen Duos durch die von Wallace konstruierte Übergrößen-Jeans ins Wanken bringt, war erst der zweite Eintrag der Wallace-&-Gromit-Reihe.
Eben jene Geschehnisse werden nun mit Aardmans neuesten Claymotion-Abenteuer fortgesetzt. Erstmals bringen Nick-Park und der langjährige Aardman-Mitarbeiter Merlin Crossingham dafür einen Nebencharakter zurück: Der heimtückische Pinguin mit den pechschwarzen Stecknadel-Augen, Feathers McGraw, schwört große Rache, nachdem sein großer Diamanten-Coup 1993 nicht aufgegangen ist. Genau hier setzt Wallace & Gromit – Vergeltung mit Flügeln an: Wallace und sein treuer Beagle stoßen mit ihren ikonografischen Tassen an und liefern den gefiederten Erzfeind bei der Polizei von Wigan ab. In sinistrer Vorschau wird Feathers McGraw in das örtliche Gefängnis – einen Zoo – in Gewahrsam gebracht.
Im Stile britischer Traditionsfilme trifft Kleinstadtidylle auf die Schauerliteratur von „Edgar Wallace“. Das gewohnheitsmäßige Treiben der beiden besten Freunde und Mitbewohner nimmt durch einen Zwischenfall einen bösen Verlauf: In Alles Käse drohte Gefahr durch eine heikle Reise zum aus Käse bestehenden Mond; bei Unter Schafen werden sie beinahe von einem an Terminator ähnelnden Cyberhund zerquetscht und im bis dato einzigen Langfilm Auf der Jagd nach dem Riesenkanninchen spricht das Ungeheuer im Titel für sich. (Mit-)Auslöser der Miseren sind durchgehend eine von Wallace zahlreichen Erfindungen.
Tradition trifft auf Technikwahn
Norbot, der (noch-)freundliche Gartenzwerg-Roboter, soll Gromit in Vergeltung mit Flügeln bei der Gartenarbeit helfen. Prompt sieht das geliebte Blumenbeet wie aus einem 3D-Drucker gepresst aus. Die Nachbarschaft scheint beeindruckt und durch die örtliche Medienberichterstattung möchte jeder seinen eigenen Helfer erhalten. Doch das Eingreifen des bösen Vogels und die Produktion zahlreicher Norbots machen Wallace schnell zum Staatsfeind Nummer 1.
Die biometrischen Busch- und Blumenformen symbolisieren überdeutlich das gewählte Thema der Filmemacher. Die Künstliche Intelligenz greift in das friedfertige Leben der Nachbarschaft ein; maßgetreu werden die Aufträge verarbeitet, doch die Persönlichkeit scheint schnell darunter zu leiden. Es kommt nicht von ungefähr, dass eben jenes Filmstudio diesen Eingriff auf Medien- und Kreativprozesse behandelt, welches sich durch detailgetreue Handarbeit und den haptischen Produktionsvorgang auszeichnet.

Opfer des verantwortungslosen Treibens seines Besitzers wird – wie in den meisten W&G-Abenteuern – der bemitleidenswerte Gromit. Die KI-Zwerge scheinen darauf codiert zu sein, den smarten Beagle zur Verzweiflung zu bringen. In der Manier eines Film noir nimmt der Spürhund die Fährte auf. Das Spiel mit Licht, Schatten und Nebel zeichnet den Animationsfilm ebenso aus wie die Referenzen an große Gefängnisfilme wie Das Loch und Die Verurteilten - oder Meisterwerke des Horrors (Die Vögel und Der Exorzist).
Eine Mischung aus Schauer und Slapstick
Nick Park beschloss nach dem ersten Langfilm nicht mehr mit DreamWorks zusammenzuarbeiten, da diese den Film zu sehr auf ein kindliches Publikum zuschneiden wollten. Zwar besticht auch Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen als launiges Abenteuer, doch in dem neuesten Werk scheint die Balance tatsächlich ausgeglichener. Die vollautomatisierten Heinzelmännchen und die toten Augen des Feathers McGraw geben Stoff für zahlreiche gruselige Momente, die in ihrer Konsequenz – abseits von kindlichen Sehgewohnheiten – atmosphärisch inszeniert sind. Gleichzeitig verlieren die Filmemacher niemals den Slapstick eines Animationsfilms aus den Augen, für den vor allem die Kinderserie Shaun das Schaf aus dem Hause Aardman berühmt ist. In Vergeltung mit Flügeln trifft Familie Feuerstein auf Alfred Hitchcock.
Viele digitale Animationsfilme enden in einer ambitionierten Actionsequenz, die den Fokus der warmherzig-persönlichen Individualgeschichte verliert. Zwar kann sich auch dieses Claymotion-Abenteuer nicht von diesem Ansatz befreien und nimmt den Weg einer ausufernden Verfolgungsjagd, doch die Macher sind sich der "Goofyness" ihres Genres bewusst (und erinnern gleichzeitig an die ikonische Eisenbahnszene aus Die Techno-Hose). Kein verbissener Stimmungsumschwung wird suggeriert, sondern das flotte Auflösen erhält die notwendige Portion Nonsens. Die Reihe schöpft ihren Humor vor allem aus der scheinbaren Ernsthaftigkeit.
Ausdruck schaffen
Die Laufzeit von knapp 70 Minuten dürfte auch der aufwendigen Produktionstechnik geschuldet sein, doch der rasante, nicht überhastete Aufbau tut gut. Einige Gags werden von Konkurrenten recycelt und sich mit selbstreferentiellen Momenten und alten Bekannten arrangiert; kreativ und konsequent wird die Geschichte wie in Aardmans besten Tagen dennoch vorangetrieben. Vergeltung mit Flügeln handelt auch von Neuanfängen: Wallace wird erstmals nicht von dem 2017 verstorbenen britischen Theater-und Filmschauspieler Peter Sallis synchronisiert, sondern von Ben Whitehead, der diesen schon in mehreren Computerspielen gesprochen hat und den eindringlichen Yorkshire-Dialaket von Sallis perfekt adaptiert. Die Komikerin Diane Morgen als aufmüpfige Nachrichtenreporterin sowie Peter Kay und Lauren Patel, als drolliges Polizisten-Duo vervollständigen das Sprech-Ensemble.

Neben der Synchronisation ist es vor allem der Ausdruck, der den Knetfiguren durch den aufwändigen Entstehungsprozess eine Seele verleiht. Der wortlose Gromit wird ausschließlich über die Blicke charakterisiert. In den Gesichtsausdrücken, die auf die Handlung reagieren, spiegelt sich der ganze Film. Ohne Laute lassen sich bemerkenswert viele Emotionen erkennen. Auch Bösewicht Feathers McGraw bekommt durch die nuancierte Mimik seine unheimliche Präsenz und Persönlichkeit, die für eine stumme Animationsfigur mit pechschwarzen Augen gar unglaublich erscheint. Bei der Arbeit mit Stop-Motion-Technik greift der Prozess aktiv in das Filmgeschehen ein; Vergeltung mit Flügeln beweist dies durch eine Beiläufigkeit seiner ausdrucksstarken Filmfiguren.
Park & Crossingham stellen die richtigen Fragen
Beiläufig akzeptieren wir in einem munter inszenierten Stop-Motion-Film auch die Tatsache, dass sich der Zoo als ein Gefängnis für die Tiere entpuppt. In Aardmans erstem Spielfilm Chicken Run - Hennen rennen erinnerten die Macher nicht als bloßes Easter Egg [sic] an den Gefängnisklassiker Gesprengte Ketten: Sie inszenierten den Hühnerstall als Gefangenenlager, um die Massentierhaltung anzuprangern. Das übergeordnete Thema in Vergeltung mit Flügeln wird symbolisiert durch die drohende Gefahr des programmierten Zwerges.
Verlieren wir das eigenständige Denken? Greift die Künstliche Intelligenz unsere Individualität an? Fragen, die Crossingham und Park durchaus anreißen und mit DreamWorks Der wilde Roboter bereits in einem digitalen Animationsfilm thematisiert wurden. Hier ließe sich die Prämisse als kulturpessimistische, dystopische Bestandsaufnahme interpretieren. So eindeutig die Geschichte beginnt, so wohlwollend endet sie auch. Es sollen keine eindeutigen Feindbilder gezeichnet werden, die Rettung liegt in der Mitte. Wallace verkörpert eben nicht einen britischen Elon Musk, der dem Fortschritt alles Menschliche unterordnet. Er ist ein glatzköpfiger Käseliebhaber und Erfinder aus Wigan, der hoffentlich endlich verstanden hat, dass er mit Gromit den wahrscheinlich treuesten Hund der Fernseh- und Filmgeschichte bei sich hat.
Cartoons von Tex Avery und Hergés Tim & Struppi gelten ebenso als großer Einfluss für Wallace and Gromit wie filmische Werke von Buster Keaton oder die James-Bond-Reihe. In Vergeltung mit Flügeln mündet die muntere Nostalgie-Reise in einen Techno-Horror. Nick Park und Merlin Crossingham bleiben sich treu und schaffen es gleichzeitig, ein großes Thema unserer Zeit atmosphärisch in ein ausbalanciertes Animations-Abenteuer unterzubringen. Um bei Aardman zu arbeiten, braucht es laut Park eine eigenwillige Leidenschaft: Die Animateure müssten damit auskommen, ihr halbes Leben auf Knien zu verbringen. Das Ergebnis sind anspruchsvoll konzipierte Werke, die die aus Plastilin hergestellten Figuren zum Leben erwecken. Eine organische Unvollkommenheit, die in dieser Form niemals aus einem Computer generiert werden könnte.




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